Auslöschung kennt die Natur nicht;
sie kennt nur die Verwandlung.
Wernher von Brauns
Ein Raum, in dem sich Geschichte und Geschichten eingelagert haben. In die Wände mit ihrem bröckelnden Putz, in Rissen und malerischen Wasserflecken an der Decke. Auf der Kante des Tresens ein Tablett mit frisch polierten Gläsern. Überbleibsel einer Party vom Vorabend. Derweil wilhelminischer Prunk auf ein Gestern verweist, das weiter zurückliegt. Die Zeitläufte
rund eines Jahrhunderts hat der Spiegelsaal überstanden. Nicht unbeschadet, aber in seinem Charakter belassen: das Ballhaus-Mitte, für das Otto Dix einst das Logo entwarf. In Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz unternimmt Franz Biberkopf hier seine ersten Tanzschritte mit einem Arm. Heutzutage genießt es Kultstatus als Clärchens Ballhaus.
Im Zentrum der Betrachtung steht weniger der morbide Charme als vielmehr der Genius Loci. Anett Stuth spitzt die Perspektive auf einen Ausschnitt zu. In den Fokus rückt ein scheinbar ungeordneter Bilderreigen, der sich unterhalb der Spiegelwand erstreckt. Säuberlich gerahmte Inkunabeln der Fotografie- und Kunstgeschichte stehen da. Ein Bilderlager? Ein Kunstkrimi? Ein Memento mori.
Denn was die so unterschiedlichen Bildzitate vereint, das sind die Spuren des Zerfalls oder der Zerstörung: Cimabues Fresken in der Basilika in Assisi aus dem 13. Jahrhundert, der Riss durch Tommaso da Modenas Engel in Treviso, die erste erhaltene Fotografie – Joseph Nicéphore Niépces Blick aus dem Fenster des Arbeitszimmers von Le Gras von 1826 –, bis hin zu einer Fotografie von Francesca Woodman, die ihren Körper immer wieder im Kontext sich auflösender und verfallener Räume inszenierte. Some Disordered Interior Geometries nannte die amerikanische Künstlerin 1981 ihren ersten Bildband. Kurz nach seinem Erscheinen verschwand sie 22-jährig aus dem Leben.
Die Komposition unterstreicht das Ephemere, in dem sie weite Teile des Saals als Spiegelbild einbezieht. Mit Lineaturen, die an Pistolenschüsse denken lassen, einer Mauer in Berlin mit
Granatsplittern aus dem Zweiten Weltkrieg, einer brüchigen Marmorbüste im Türrahmen. All das fügt sich ins Gesamtbild gleich fossilen Einschlüssen. Als Spiegelung steht Francis Bacon
1970 in seinem Atelier. Der große Maler des menschlichen Verfalls blickt wie eine Sphinx in einen weiteren, einen potenziellen Raum, während die Linie zu Cimabues Gekreuzigtem
führt. Siebenhundert Jahre nach seiner Entstehung irreversibel von der großen Flut in Florenz beschädigt, trägt das gotische Holzkreuz bis Heute die Zeichen der Verwandlung.
Michaela Nolte