Faust: Da muss sich manches Rätsel lösen.
Mephistopheles: Doch manches Rätsel knüpft sich auch.
Johann Wolfgang von Goethe, „Faust: Der Tragödie erster Teil“
Vorhang auf! Die Zuschauerreihen leergefegt. Nicht einmal ein Regisseur mit Probenentourage ist gekommen. Dabei verkündet eine Leuchtschrift auf der Nebenbühne: DAS SPIEL IST FAST AUS. Hamlet ist noch da. Sitzt gedoppelt auf der Hauptbühne. Oder gespalten? In der Hand nicht den Schädel des Hofnarren Yorick, sondern sein Alter Ego: Der junge Hamlet als Projektion, die an die Puppen des Video- und Installationskünstlers Tony Oursler erinnert. Ein denkwürdiger Hofstaat hat sich um Shakespeares Dänenprinz versammelt. Picasso als dreifacher Lichtmagier, so dynamisch, als wolle er den doppelten Hamlet (Josef Ostendorf / Jörg Pohl) in ein kubistisches Porträt zerlegen. Doch ist das Picasso? Oder steht ein Schauspieler in der Rolle des Jahrhundertkünstlers im Scheinwerferlicht?
Sein oder Nichtsein. Zwischen die berühmten Worte setzt Anett Stuth den Schein, und auch der Saal der Berliner Schaubühne scheint nicht das, was er sein sollte. Hamlet, in Szene gesetzt von Luk Perceval in Hamburg, spielt im Bühnenbild der Tartuffe-Inszenierung von Michael Thalheimer. Auch hebt sich nicht der Hauptvorhang, nicht die Brecht-Gardine oder der Wagner-Vorhang, dessen sich Öffnen an eine Irisblende erinnert.
Stuth zieht den Vorhang des Fotografieraums auf. Das Medium, das seit dem 19. Jahrhundert Stars wie Sarah Bernhardt, Josef Kainz oder Alexander Moissi im kollektiven Gedächtnis verankert. Auftritt Hamlet: Lawrence Olivier (1948), Klaus Kinski (1962), Ulrich Wildgruber (1977) und August Diehl (2013). Lars Eidinger gibt Molières scheinheiligen Tartuffe, Gustav Gründgens den Mephisto und Klaus Maria Brandauer spielt Gründgens alias Hendrik Höfgen, aus István Szabós Verfilmung des Klaus-Mann-Romans Mephisto. In Café Müller tanzt Pina Bausch, die dem schönen Schein des Theaters immer auch das Sein oder Nichtsein abgerungen hat.
Heroen der Theater- und Filmgeschichte, nebst Lucas Cranachs Adam und Eva im ersten Schauspiel der christlichen Welt. Bildzitate, die Anett Stuth in den rot lavierten Stoff einprägt, wie weiland das Antlitz Christi auf dem Schweißtuch der Veronika, dem »Vera Ikon«. Das »wahre Bild« hat im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie ausgespielt. Grell blinken Bruce Naumans Neonakte, und Jack Piersons Wortskulptur FAME droht, von der Wand zu fallen. Direkt auf die farbigen Neonröhren des Minimal-Künstlers Dan Flavin. Protagonisten der Illusion, aber in ihrer Materialität handelsüblicher Leuchtstoffröhren auch Symbol des schlicht existenziellen Seins.
Michaela Nolte