Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können.
Jean Paul, „Impromptus für Stammbücher“
Das Paradies ist verriegelt. Ganz am Ende eines vom Vandalismus gezeichneten Raums steht das Ladengeschäft mit dem vielversprechenden Namen. Die Auslage notdürftig mit Packpapier verklebt, in den großen Fensterfronten spiegeln sich nur noch die herausgerissenen Kabel und Eisenstreben, die im trashigen Innenraum von der Decke herabbaumeln.
Dabei wirkt der Paradies-Schriftzug eigentlich intakt, und die zwei Palmen zur linken und zur rechten Seite leuchten im frischen Neongrün. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Dass sich der Glaube der einstigen Besitzer erfüllt hat, dass sie vielleicht mit dem Ertrag ihres Ladens ein Dasein unter diesseitigen Palmen gefunden haben, scheint mehr als zweifelhaft. Ebenso wie die Hoffnung der Kunden auf eine paradiesische Konsumwelt.
Im vorderen Raum zwischen Schutt und Ornamenten des Zerfalls achtlos zerstreute Zeichnungen und allerlei Paradiessurrogate. Überbordend, über- und untereinander geschichtet. Flüchtig und wie zufällig an einer Pinnwand. Die Paradiestafel aus Hieronymus Boschs Triptychon Garten der Lüste ist überlagert von Gegenwartsfotografien eines Menschenaffen und einer Löwenfamilie hinter Gittern.
Adam und Eva laufen schnurstracks in ein Badeparadies, in dem ihre Nachfahren die Vertreibung aus dem biblischen Paradies – die Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle noch mit Ehrfurcht und Schrecken konnotierte –, tausendfach zu genießen scheinen.
Der Sündenfall im Ornament der Masse. Die Tiere der Arche Noah ein Fall für den Dekostoff des Vorhangs, der Stuths Paradies im Vordergrund eröffnet. Der stolze, naturalistisch gemalte Löwe eingehüllt vom Star-Spangled Banner. Die amerikanische Flagge als Verheißung eines Traums, an den vielleicht auch die Betreiber des Paradiesgeschäfts geglaubt hatten.
»Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns«, heißt es in Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater. »Wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.« Anett Stuth unternimmt mit ihren Fotografien eine solche Reise. Ein beharrliches Beobachten, Suchen und Sehen, wo sich hinter der Bilderflut, die unsere Wahrnehmung heutzutage verriegelt, durch eine Neuordnung des Materials Schlupflöcher der Erinnerung finden lassen.
Michaela Nolte