Die neuen Fotoarbeiten der aus Leipzig stammenden Künstlerin Anett Stuth thematisieren die in allen europäischen Großstädten fortschreitende Gentrifizierung. Sie hat unter anderem in Hamburg, Berlin, London und Lissabon Stadtsituationen in Bezirken fotografiert, in denen der Abriss historisch gewachsener Viertel voranschreitet und mit Neubauten neue Stadtstrukturen geschaffen werden. Sie dokumentiert fotografisch eine verschwindende Stadtgestalt und kommentiert mit ihren malerischen Eingriffen das häufig Groteske der Situationen.
Ganze Viertel aus vergangenen Jahrhunderten sind weltweit innerhalb einer kurzen Zeitspanne infolge des wirtschaftlichen Strukturwandel und ungebändigtem Anlagebedarf am Verschwinden. Im Moment sind gerade noch an einigen Orten wie dem Hafenviertel in Lissabon oder Brick Lane und Hackney Wick in London Zwischenwelten aus vielfältigen Schichtungen von Gebäudegruppen verschiedener Jahrhunderte erlebbar. Diese erfasst Anett Stuth mit ihren Fotoarbeiten ebenso wie die letzten Spuren einer verschwindenden Lebendigkeit, die sich noch auf den auf Mauern gesprühten Graffitis, den alten Werbungtafeln, Konzertankündigungen und verblichenen Aufklebern erspüren lässt.
Während Anett Stuth in ihren bisherigen Fotoserien eher die Welt collagenartig (de-) konstruiert hat, zeigen die Bilder der neuen Serie „Fehlfarben“ reale kurzzeitig existierende, vielfältige „Collagen“ mitten im städtischen Raum. Diese von der Künstlerin fotografierten Stadtcollagen werden durch unterschiedliche „Fehlfarben“, welche sie mit einem dünnen Pinsel sehr dezent in das vergrößerte Foto einbringt, verstärkt und verdichtet. So entstehen künstlerische Unikate von zeitgenössischem, dokumentarischem Wert.
Der Begriff „Fehlfarben“ gewinnt hier eine doppelte Bedeutung: einerseits als fehlende Farbe (englisch Lack Color, übersetzt Mangelfarbe) anderseits als eine verfehlte, also falsche Farbe.
Holger Priess