Alle die eben umkreisten Motive – Selbstisolation, Subjektspaltung, Deklination der Erinnerung –
sind aber immer nur Kapitelüberschriften aus ein und demselben Buch, an dem jeder,
nicht nur der Dichter, bis zu einem gewissen Grad zeitlebens arbeitet,
auch ohne belletristischen Ehrgeiz.
Durs Grünbein, „Warum schriftlos leben“
Eine Trutzburg der modernen Dienstleistungswelt. Aseptisch, frei von Charisma oder Aura. Darin ein wandfüllendes Bild im Bild, das Lebensspuren in den Bürotrakt bringt. Ein Baby schläft auf einem Schreibtisch, umrahmt von Arbeits- und Spielutensilien, von persönlichen Accessoires und einem Globus. Ein vehementer Kontrast, wie wir ihn sonst nur aus unseren Träumen erinnern.
Allmählich erst dringt das Auge von der Außenhaut einer funktionalistischen Architektur zu den ineinander verschachtelten Motiven vor, lässt die Collage den Blick durch eine Passage von Raum, Zeit und Bild wandeln: über eine mit Landkarten übersäte Kartause, durch ein Studienzimmer mit typischem DDR-Charakter und ein verglastes Atelier in Prenzlauer Berg. Der Brücke-Künstler Karl Schmidt-Rottluff arbeitete hier zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und in den 1980er-Jahren avancierte es um den Grafiker und Maler Michael Diller zum geheimen Treffpunkt der DDR-Boheme. Hinter diesem kunsthistorisch so bedeutenden Ort öffnet sich – Anfang und Ende dieses Kreislaufs durch ein Jahrhundert – die private Wohnstube einer alten Frau. Wie das Baby schläft auch sie. An der Schwelle, wo das Leben dem Flusslauf auf der kleinen Landschaft in die Unendlichkeit folgt, schlägt es den Bogen zu einem Zitat Andy Warhols. Der Fotograf Timm Rautert notierte es unter sein Bildnis des Pop-Art-Künstlers: »Ich erkannte, dass alles, was ich tue, mit dem Tod zusammenhängt.«
Die Komposition der Fotografie Erinnerung, mit der Anett Stuth 2003 zum ersten Mal ihre originäre Collagetechnik und ihre Serie Raum, Zeit und Bild entwickelt hat, spiegelt die Dichotomie von Werden und Vergehen wider. Der äußere, geschichtslose Raum vollzieht eine leichte Rechtskrümmung, während das Bild-im-Bild-Geschehen nach links dreht. An einem nicht definierten Punkt kreuzen und überlagern sich die Kurven, verschmelzen zu einem neuen Gedankenraum.
Stuths Fotografie fußt auf dokumentarischen Prinzipien im Sinne Walker Evans und führt zugleich ein surreales Moment in die fotografische Dimension ein. Sie vereint die Realität von Leben, Gedankenwelt und Erinnerung, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Fotografie.
Michaela Nolte