Sieh das Licht an und betrachte seine Schönheit.
Schlag die Augen zu und wieder auf und sieh es erneut an.
Was du von ihm siehst, war vorher nicht und was von ihm war, ist nicht mehr.
Wer ist es, der es neu macht, wenn der Macher unentwegt stirbt?
Leonardo da Vinci, „Die Aphorismen“
Eine ausgediente Fabrikhalle. In der zentralen Flucht öffnet sich ein weiteres Gebäude. Ein Haus, dessen geplante Zerstörung Gordon Matta-Clark 1974 mit dem Schnitt durch die Architektur offenlegte. Anett Stuth zitiert die bahnbrechenden Cuttings und Splittings des Amerikaners an einem Ort, der seiner Funktion zwar enthoben ist, doch eine gewisse Würde bewahrt hat. Das Tageslicht, das durch den gläsernen Dachgiebel und die seitlichen Glasbänder fällt, verleiht dem Ort im Zwischenzustand Helligkeit und Klarheit.
Durch die Raum-im-Raum-Doppelungen bricht die Fotografin die Ästhetik der Architektur, setzt denkwürdige Fehlstellen und Irritationen. Eine eiserne Säule hat den Kontakt zum Boden verloren, ein menschlicher Schatten fällt auf den Boden wie die Tapete von der Wand. Im rechten Bildbereich biegt sich die gesamte Eisenkonstruktion wie bei einem Sturm. Die Räume, die sich da öffnen, sind fotografische Möglichkeiten von Raum. Mit Unvollkommen / Unvollendet bespielt Anett Stuth subtil ein Nicht-mehr und Noch-nicht. Verschachtelte Denkräume von Historie und Kunst-Geschichten, die ein abruptes Ende genommen haben.
Der 1978 erst 35-jährig verstorbene Gordon Matta-Clark steht exemplarisch für ein solch unvollendetes Leben. Das Porträt von Michel Leiris, das nach Francis Bacons Tod 1992 in seinem Londoner Atelier auf der Staffelei stand, ist Fragment geblieben. Kurz zuvor war der Schriftsteller und Freund des Malers selbst verstorben. Auf dem Autographen von Johann Sebastian Bachs letzter Fuge vermerkte Sohn Carl Philipp Emanuel: »Ueber dieser Fuge, wo der Nahme BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben.«
Obwohl unvollendet, wird Bachs Schlussfuge als Bestandteil des Zyklus vollkommen akzeptiert. Für Franz Schuberts Sinfonie Nr. 8 in h-Moll hat sich Die Unvollendete gar als Beiname durchgesetzt. Bachs Fuge hat Anett Stuth im Deckenbereich eingearbeitet. Von Schuberts Unvollendeter scheint sich die Melancholie wie ein Generalbass durch diese Fotografie zu ziehen. Die zitierten Bleistiftzeichnungen Michelangelos und Leonardo da Vincis, die fragil im rechten Raum wehen, aber auch der Wechsel von zart pastellener Farbigkeit und rostfarbenen Spuren des Verfalls rufen Schuberts dunklen, sehnsüchtigen Mollgesang am Beginn des ersten Satzes wach.
Michaela Nolte