Zu sagen
»Hier herrscht Freiheit«
ist immer
ein Irrtum
oder auch
eine Lüge:
Freiheit herrscht nicht.
Erich Fried, Herrschaftsfreiheit
Weiße Papierbögen wehen auf einen roten Boden. Die Vögel darauf: gemalt, fotografiert, lebendig und tot. Dazwischen Otto Lilienthal mit einem Flugapparat, ein Jahrzehnt vor dem endgültigen Durchbruch zum uralten Menschheitstraum vom Fliegen. Sehnsüchtig blickt der Löwe einer Taube hinterher. Oder verfolgt er den Turmspringer, den Eadweard Muybridge um 1880 fotografierte? Im freien Fall – Gefangenschaft und Freiheit.
Anett Stuth eröffnet ein rätselhaftes Panorama. Ein roter Vorhang legt einen Holzrahmen frei. Doch weniger ist es ein Rahmen, als vielmehr die Umfriedung einer Balkontür und Referenz an den Romantiker Carl Gustav Carus. Das Zitat seines Gemäldes Balkon in Neapel steht in veritablem Kontrast zur Diasec-Technik, bei der die Fotografie rahmenlos hinter Acrylglas versiegelt wird. Im Verzicht auf den Rahmen öffnet Anett Stuth das Bild in den Raum und für die Assoziationen des Betrachters. Der Ausblick trifft auf eine bizarre Szenerie: ein unwirtlicher Himmel, dessen Silhouette an Trabantenstädte denken lässt. Doch die Mauer trägt einen Riss, und die Häuser sind Schachteln, bevölkert von Akteuren, deren Zusammenkunft nicht minder geheimnisvoll ist.
Die Collage folgt dabei einer ganz eigenen Logik, führt von Henri Cartier-Bressons Gefangenem, der seine nackten Gliedmaße aus der Zelle reckt, zu Francesca Woodmans Performance in einem Glaskasten oder Steve McQueen in der Rolle des Papillon. Letzterer riskiert beim Sprung von einer Klippe für die Freiheit sein Leben. Der Löwe, den Jean-Baptiste Oudry 1752 lebensgroß und beeindruckend naturalistisch in einer illusionistischen Landschaft porträtierte, fristete sein Dasein in der Menagerie von Versailles. Ein Panther im Käfig wird von Henri Rousseaus Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope überlagert. Die freie Wildbahn verblasst zur bunt gescheckten Erinnerung im schwarzen Fell hinter Gitterstäben.
Derart nonlineare Verzweigungen entzünden auch die rund 100 Persönlichkeiten, die der Porträtblock versammelt: Samuel Beckett, der sein erstes Theaterstück Eleutheria (Freiheit) nannte und es von der Bühne zurückzog, oder Emil M. Cioran, dessen Skeptizismus in der Freiheit gipfelte, Hand an sich zu legen. Philosophen, Künstler und Wissenschaftler, die für die Freiheit – auch die des Denkens – gekämpft haben. »Freiheit! Ein schönes Wort, wer’s recht verstünde«, lässt Johann Wolfgang von Goethe den Herzog von Alba im Egmont sagen. Charles Darwin scheint ihm zuzustimmen, legt den Finger bedächtig auf seinen Mund. Der Rest ist Schweigen.
Michaela Nolte